Dienstag, September 23, 2008

Berliner Luftveränderung


Dieselbe Wohnung, dieselbe Gegend, seit Tagen, seit Wochen. Allzu gewohnter Alltag. Kühe grasen, wie Mohnkrümel auf riesige Wiesenweiten gestreut, Schafe blöken auf den Deichen vorbeituckernde Schiffe an, Wolken ziehen über den Horizont, Backsteinhäuschen kauern sich aneinander. Im Gemüsegarten reifen Bohnen. Trecker tuckern, Windräder kreiseln, Wallhecken, gemütliche, eingefahrene Idylle mit geblümten Scheuklappen. Vor dem Einkaufszentrum dreht sich ein Kinderkarussell. Blumenkohl und Schweinegulasch sind im Sonderangebot. Konfektionierte Gesichter begegnen sich in kleinen Fußgängerzonen. Bänker mit bravem Seitenscheitel essen mittags holländische Pommes. Die Erntekönigin aus Wiesmoor bekommt Sonderseiten in der Zeitung, der Schützenkönig gibt eine Runde Cola-Korn aus. Zinnteller zieren Schrankwände in Wohnzimmern. Teenies tummeln sich an der einzigen Bushaltestelle im Dorf, lassen frisierte Mofas aufheulen, werfen Kippenstummel ins Gebüsch. Mit Eddings kritzeln sie Liebesschwüre für die Ewigkeit an die Waschbetonwand des Wartehäuschens. In zwei Wochen werden sie die Namen durchstreichen, aus, vorbei, die Ewigkeit währte kurz. Kaum etwas überrascht. Fast alles kennst Du, bist hier aufgewachsen und zurückgekehrt, bist schon viel zu gewöhnt daran. Die Decke sinkt, droht auf den Kopf zu fallen. Raus. Und endlich hast Du ein paar Tage frei. Urlaub. Die Chance.

Prag? War der Plan. Lange angedacht, kurzfristig zersplittert. Aus Gründen. Du wiegst und sortierst Ideen, suchst Möglichkeiten. Berlin? Berlin. Ein erstes Vorfühlen am Donnerstag, ein Anruf am Freitag. „Wenn Du Lust hast, steig gleich in den Zug. Passt.“ Koffer auf, Koffer zu. Eine Dreiviertelstunde später sitzt Du im Zug, knapp fünf Stunden später schiebt sich der Zug durch die ersten Hinterhöfe des süßen Molochs. Lehrter Bahnhof. Die Hauptstadt empfängt mich mit verwirrend verschachtelten Rolltreppen unter Stahl und Glas.

Neonreklamen flackern. Gleichförmige Trauben quetschen sich treppauf- und treppabwärts, beschleunigen, drängen sich vorbei, bremsen, fließen durcheinander, verabschieden sich, winken, fallen sich in die Arme. Pfennigabsätze klackern auf Beton, Turnschuhsohlen schmatzen, Münzen klimpern, ehe sie in Getränke-Automaten verschwinden, Verspätungs-Ansagen krähen blechern aus Lautsprechern. Tausende Stimmen murmeln, hallen wider, verwischen sich – eine wabernde Wolke, aus der sekundenweise Fetzen hervorragen und hängen bleiben, Wortbruchstücke fremder Gesichter, die Du womöglich nur in dieser einen Sekunde Deines Lebens sehen wirst. Selbst wenn man sich immer zweimal sieht.

Ausgehungert und dürstend bist Du, verschlingst und säufst die Stadt von der ersten Sekunde an. Gierig. Die Augen aufgerissen, die Ohren weit offen. Volltanken, bitte!
„Vielleicht habe ich die Einöde unterschätzt, den Schritt zurück in die Provinz, woher ich komme“, denkst Du und stehst immer noch mit offenem Rachen da, unersättlich, geil auf den großen, grellen Moloch, auf sein rastloses Pulsieren, seine dreckigen Fantasien, seine hinterlistigen Verstecke, sein janusköpfiges Schillern und seinen wilden Wandel. Als hättest Du Dir die Augenlider weggerissen, alle Schotten geöffnet, als hätte der ruhige, gemächliche Fluss Deine Vernunft übersättigt. Zu viel Torte macht Heißhunger auf Scharfes, Salziges. Zu viel Sanftmut macht rappelig, lässt das Berstende, Krachende, das beständig Unbeständige magnetisch werden, den Rausch nach der Vernunft, die Gier nach Ausgleich der Kräfte, nach glutvollem Baden im Gegenteil, ekstatischem Zucken voller Macht. Schleudertrauma, um das Gleichgewicht wieder herzustellen.